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Partizipation

Häufig werden die Begriffe Teilhabe und Partizipation synonym ("bedeutungsgleich") gebraucht. Mit anderen Worten: Viele Menschen glauben, dass es keinen Unterschied zwischen den Worten gibt. Dies liegt auch daran, dass das englische Wort "participation" in der originalen Version der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) im Deutschen mit "Teilhabe" übersetzt wurde (siehe die Frage zur Definition des Begriffs Partizipation unten). Dennoch unterscheiden sich beide Begriffe:
Während Teilhabe laut der Welt-Gesundheits-Organisation (World Health Organisation: WHO) das "Einbezogensein in eine Lebenssituation" bedeutet, ist Partizipation mehr als das. Partizipation bedeutet: Beteiligung von Menschen an Entscheidungsprozessen und Einflussnahme auf das Ergebnis. Ein Beispiel für Teilhabe ist, wenn Menschen mit Behinderungen barrierefrei ein Gebäude betreten können. Ein Beispiel für Partizipation ist, dass sie bei der Planung des Gebäudes mitentschieden haben. Es ist eben ein Unterschied, ob man im Nachhinein oder von Anderen in eine Lebenssituation einbezogen wird, oder ob man eine Lebenssituation von vorne herein selbst mitgestaltet.

Partizipation meint also Mitbestimmung. Diese ist von Teilhabe und von Selbstbestimmung abzugrenzen. Während Mitbestimmung immer Entscheidungen in einem gemeinschaftlichen Zusammenhang meint, bedeutet Selbstbestimmung die Möglichkeit, selbst über Fragen des eigenen Lebens zu entscheiden. Selbstbestimmung ist eine zentrale Bedingung für Partizipation. Gleichzeitig entwickeln sich aus partizipativen Prozessen mehr Möglichkeiten für Selbstbestimmung. Beide Begriffe sind aber nicht zu verwechseln.

Partizipieren meint also aktives Mitgestalten, welches über individuelle Entscheidungsspielräume hinausgeht. Um es anhand eines aktuellen Beispiels zu verdeutlichen: Im Sozialgesetzbuch Neuntes Buch gibt es seit 2018 die neue Leistungsgruppe "Leistungen zur Teilhabe an Bildung". Gemeint ist die Möglichkeit, Bildungsangebote und -einrichtungen auch als Mensch mit Behinderungen wahrnehmen zu können. Partizipation an Bildung wäre es erst dann, wenn Menschen mit Behinderungen die Bildungsangebote und -institutionen mitgestalten könnten.

  • Anhand von Stufenmodellen (der Partizipation) lässt sich zeigen, dass Partizipation etwas mit der Möglichkeit zu tun hat, an Entscheidungen mitzuwirken. Es gibt verschiedene Modelle. Es werden meist "Vorstufen der Partizipation" von "Stufen der Partizipation" unterschieden. Ein Beispiel ist die Partizipationspyramide von Straßburger und Rieger, die auf jeder Stufe zwei Seiten abbildet:Auf der anderen Seite aus der Perspektive der einzelnen Personen in einer Gesellschaft. Die verschiedenen Stufen sollen am Beispiel der Einstellung einer neuen Arbeitskraft in einer Einrichtung der Behindertenhilfe verdeutlicht werden.
    Zur Veranschaulichung: Modell der Partizipationspyramide von Straßburger und Rieger

    Die erste Vorstufe im Modell der Partizipationspyramide von Straßburger und Rieger umfasst das gegenseitige Geben und Erhalten von Informationen.In Bezug auf das genannte Beispiel könnte das die Information sein, dass eine neue Arbeitskraft eingestellt werden soll. Die zweite Vorstufe meint, dass Menschen sich zu einem Thema äußern können (z.B. kann der Bewohnerschafts-Beirat seine Meinung zu einer Neueinstellung darstellen). Auf der dritten Stufe wird die Lebensweltexpertise der Betroffenen eingeholt (z.B. über eine Befragung der Bewohnerschaft). Dies alles bezeichnen Straßburger und Rieger als Vorstufen, da Menschen auf diesen Stufen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden sind. Dies ist erst ab Stufe vier der Fall. Hier treffen die adressierten Personen gemeinsam mit Fachkräften Entscheidungen. So hat beispielsweise auch ein Mitglied des Bewohnerschafts-Beirats beim Bewerbungsgespräch das Recht, mit abzustimmen. Auf der fünften Stufe wird die Entscheidungskompetenz teilweise abgegeben. In bestimmten Bereichen können die adressierten Personen selbst entscheiden. Auf der sechsten Stufe haben die adressierten Personen die alleinige Entscheidungsmacht. Stufe sieben ist die der zivilgesellschaftlichen Eigenaktivität – das meint Engagement, das unabhängig von einer Institution gezeigt wird. Stufe sieben ist die der zivilgesellschaftlichen Eigenaktivität – das meint Engagement, das unabhängig von einer Institution gezeigt wird. Das Modell kann dazu dienen, Prozesse im eigenen Lebensumfeld zu hinterfragen.

    Erfahrungsgemäß finden in Einrichtungen der Behindertenhilfe häufig nur Vorstufen der Partizipation nach Straßburger und Rieger statt. Um Partizipation zu fördern, braucht es ermöglichende Strukturen. Partizipation muss aber auch von allen Seiten erlernt werden. Um in einem inklusiven Prozess darüber zu reflektieren, wie mehr Partizipation erzielt werden kann, kann zum Beispiel der Index für Partizipation dienen: Index für Partizipation

  • Die Begriffe Partizipation und Teilhabe sind auch anhand der Übersetzung der UN-BRK diskutiert worden. Der Begriff "participation" im Englischen wurde ins Deutsche mit dem Begriff "Teilhabe" übersetzt. Während auch in der Schattenübersetzung des NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. von 2010 von Teilhabe und nicht von Partizipation die Rede ist, übersetzt die 3. Auflage der Schattenübersetzung von 2018 "participation" konsequent mit Partizipation. Sigrid Arnade, eine der Autorinnen der Schattenübersetzung, begründet dies damit, dass man in der Zwischenzeit festgestellt habe, dass Partizipation mehr sei als Teilhabe und Elemente von Mitgestaltung und Mitentscheidung enthalte. Interview mit Sigrid Arnade anlässlich der Veröffentlichung der 3. Neuauflage

    Mit dieser Änderung folgt die Schattenübersetzung der Annahme, dass durch die Übersetzung in "Teilhabe", "teil(zu)nehmen" und "mitwirken" wesentliche Aspekte verloren gehen, welche die Konvention mit dem Begriff "participation" verbindet. In Österreich gibt es seit 2016 eine amtlich korrigierte Version der deutschen Übersetzung der UN-BRK. Trotz vieler Diskussionen konnte man sich hier aber nicht auf eine Übersetzung des Begriffes "participation" einigen. Wie gesehen umfasst "Partizipation" bei der Einbindung von Betroffenen wesentlich mehr als "Teilhabe" oder gar "Teilnehmen". "Partizipation" ist immer Mitbestimmung, man könnte auch sagen eine "Entscheidungsteilhabe".

  • Wie eingangs beschrieben, wird "participation" in der deutschen Übersetzung der UN-BRK mit dem Begriff "Teilhabe" übersetzt. Dies ist nicht zuletzt deshalb irreführend, da die UN-BRK selbst ein Beispiel für gelungene Partizipation darstellt: Sie entstand unter Einbeziehung zahlreicher zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, darunter Menschen mit Behinderungen und ihrer Verbände auf allen Ebenen und in allen Phasen der Verhandlung. Das Motto "Nichts über uns ohne uns" kann als Leitlinie des gesamten Verhandlungsprozesses gelten.

    So findet sich im englischen Original Partizipation als Grundsatz der UN-BRK (vgl. Artikel 3 UN-BRK): Hier wird die volle und wirksame Partizipation an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft ("full and effective participation and inclusion in society") genannt. In der deutschen Übersetzung fehlt zwar dieser allumfassende Anspruch, Hinweise auf partizipative Prozesse finden sich aber dennoch.

    In Artikel 4, Absatz 3 steht, dass Menschen mit Behinderungen bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzepten zur Umsetzung der UN-BRK und anderen für sie wichtigen Entscheidungen aktiv miteinbezogen werden sollen. Dazu sollen enge Absprachen mit Organisationen getroffen werden, die Menschen mit Behinderungen vertreten.

    Einen weiteren wichtigen Punkt in Bezug auf Partizipation bildet Artikel 29. Hier wird das Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben für Menschen mit Behinderung definiert. Dies umfasst unter anderem das Recht zu wählen und gewählt zu werden, das Recht auf geeignete, zugängliche und leicht zu verstehende und handhabbare Wahlverfahren, sowie Wahlmaterialien und das Recht bei Wahlen zu kandidieren sowie ein Amt wirksam innezuhaben. Wahlen als klassisches Mittel der Partizipation sind also in der UN-BRK verankert, auch wenn hier lediglich von Teilhabe die Rede ist.

    Inwiefern der Anspruch der UN-BRK, Partizipation, Teilhabe und Inklusion für Menschen mit Behinderungen in Deutschland zu garantieren, tatsächlich umgesetzt wird, ist umstritten. 2011 schlossen sich Organisationen der Zivilgesellschaft zusammen und gründeten die Allianz zur UN-Behindertenrechtskonvention (BRK-Allianz). Ziel war es, in dem Verfahren der Staatenberichtsprüfung mitzuwirken und einen gemeinsamen Bericht ("Koordinierter Parallelbericht") an den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu übergeben. Dies geschah im Januar 2013. Parallelbericht der BRK-Allianz

    Tatsächlich stellt auch der UN-Fachausschuss in den sogenannten "Abschließenden Bemerkungen" über den ersten Staatenbericht Deutschlands 2015 Mängel in der Umsetzung fest. In Bezug auf das Wahlrecht zeigt sich der Ausschuss besorgt über den in § 13 Abs. 2 und 3 des Bundeswahlgesetzes (und in den entsprechenden Ländergesetzen) vorgesehenen Ausschluss von Menschen mit Behinderungen vom Wahlrecht und empfiehlt, "alle Gesetze und sonstigen Vorschriften aufzuheben, durch die Menschen mit Behinderungen das Wahlrecht vorenthalten wird, Barrieren abzubauen und angemessene Unterstützung bereitzustellen." Durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 2019 und entsprechende Gesetzesänderungen ist die Vorenthaltung des Wahlrechts nun Geschichte.
    Deutsche Übersetzung der "Abschließenden Bemerkungen" auf der Seite des Deutschen Instituts für Menschenrechte

    Ende 2018 hat der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der UN ("UN-Fachausschuss" – mehr dazu im Eintrag zur UN-BRK) die siebte Allgemeine Bemerkung zur "participation of persons with disabilities" veröffentlicht, die sich vor allem mit der Umsetzung und Überwachung des Übereinkommens befasst. Das englische Original kann bei der UNO hier heruntergeladen werden.

    Link zum Artikel "Partizipation – Ein Querschnittsanliegen der UN-Behindertenrechtskonvention" des Deutschen Instituts für Menschenrechte

    Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar Teilhabe/Partizipation eignet sich auch die Handreichung "‘Nichts über uns ohne uns!‘" – Von der Alibi-Beteiligung zur Mitentscheidung!“ des Netzwerk Artikel 3 aus dem Jahr 2014 (der Umsetzungsstand der BRK bezieht sich auf diesen Zeitpunkt)

  • Das am 16.12.2016 verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG) greift den Geist der UN-BRK auf. Es ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) neu gestaltet (man sagt oft "novelliert"). Während die meisten Neuregelungen des SGB IX das Thema Teilhabe betreffen, finden sich auch Änderungen zum Thema Partizipation. Dabei findet sich der Begriff der Partizipation nur an einer Stelle, nämlich im neu geschaffenen Kapitel 8, in dem die Aufgaben der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) geregelt werden. Als Aufgabe ist hier "die Förderung der Partizipation Betroffener durch stärkere Einbindung von Selbsthilfe- und Selbstvertretungs-Organisationen von Menschen mit Behinderungen in die konzeptionelle Arbeit der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation und deren Organe" festgelegt.
    Allgemein ist jedoch eine Stärkung der Partizipation und Selbstbestimmung der Betroffenen vorgesehen. So wird in der Neufassung des SGB IX in Teil 1 für alle Rehabilitationsträger ein verbindliches, partizipatives Teilhabeplanverfahren vorgeschrieben.

    Die mit dem BTHG eingeführten Neuregelungen räumen in der Summe mehr Mitbestimmungsrechte in Form von Interessensvertretungen ein.

    So werden beispielsweise die Partizipationsmöglichkeiten in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) gestärkt (SGB IX Teil 3, Kapitel 12). Im Zuge des BTHG (Artikel 22 Änderung der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung) fand auch eine Erweiterung der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung (WMVO) in Bezug auf die Wahl von Frauenbeauftragten statt. Gemäß § 39 a–c WMVO muss es künftig in jeder WfbM zur gesonderten Vertretung der Interessen von Frauen mit Behinderungen eine Frauenbeauftragte und eine Stellvertreterin geben (SGB IX § 222 Abs. 5.) Für kirchliche Einrichtungen gilt analog die Diakonie-Werkstättenmitwirkungsverordnung (DWMV), denn solche sind gemäß § 1 Abs. 2 WMVO von deren Geltung ausgenommen. Die Links zu den Gesetzestexten und Verordnungen finden sich am Ende des Textes.

    Festgeschrieben ist außerdem die Schwerbehindertenvertretung (SBV) "in allen Betrieben, in denen wenigstens fünf schwerbehinderte Menschen nicht nur vorübergehend beschäftigt sind". Gesetzliche Grundlage hierfür sind die §§ 177-180 SGB IX. Infos über die Schwerbehindertenvertretung auf der Webseite der Integrationsämter

    Ebenfalls ein Gremium der Partizipation ist der in Kapitel 14 § 86 SGB IX festgelegte Beirat für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen beim BMAS.

    "Partizipation" ist aber im BTHG auch angedacht, wenn es um die Einführung und Überprüfung der gesetzlichen Neuerungen geht, die es nach und nach in Gang setzt. So finden parallel zur Einführung des BTHG zahlreiche Projekte statt, die die Änderungen bestmöglich begleiten sollen: so beispielsweise die Wirkungsprognose, die Umsetzungsbegleitung sowie zahlreiche andere Untersuchungen, stets unter Beteiligung zivilgesellschaftlicher, behindertenpolitischer Agierender, die nach Artikel 25 Absatz 2 BTHG durch das BMAS beauftragt wurden.

    Das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz - BGG) beschäftigt sich in §19 mit der "Förderung der Partizipation". Hierin heißt es, dass der Bund Maßnahmen von Organisationen fördert, die zur Stärkung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten dienen.

    Regelungen zur Mitwirkung durch Beiräte in Einrichtungen der Behindertenhilfe finden sich in verschiedenen Länder-Heimgesetzen. Inwiefern aber hier tatsächliche Partizipation und nicht nur Vorstufen möglich sind, ist abhängig vom einzelnen Gesetz, den handelnden Verantwortlichen und den Bedingungen vor Ort. Ähnliches gilt für kommunale Beiräte. An dieser Stelle kann ein Rückgriff auf die obige Partizipationspyramide zur Reflexion des vorhandenen Grades an Partizipation hilfreich sein.

    Links zu den hier erwähnten Gesetzen und Verordnungen: