Angemessene Vorkehrungen
Eine Behinderung ist keine "Eigenschaft" eines Menschen: Sie tritt dann auf, wenn ein Mensch mit einer Beeinträchtigung auf eine Barriere stößt (das wird genauer im Eintrag zu "Behinderung" erklärt). Alle Produkte, Dienstleistungen, Gebäude usw. sollten deshalb so gestaltet sein, dass sie keine Barrieren enthalten (dazu steht mehr im Eintrag zu "Barrierefreiheit").
Aber selbst, wenn weitgehende Barrierefreiheit gegeben ist und die Vorschriften eingehalten wurden, sind manchmal Vorkehrungen im Einzelfall erforderlich oder können nachträglich verlangt werden: Man muss für eine bestimmte Person eine bestimmte und geeignete Änderung vornehmen, damit sie gleichberechtigt teilhaben kann. Der Fachbegriff dafür ist "angemessene Vorkehrungen" (eine "Vorkehrung" ist eine "Maßnahme", man kennt es von "Maßnahmen treffen"). Der englische Fachbegriff dazu heißt "reasonable accomodation".
Im deutschen Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und einigen Landesgleichstellungsgesetzen steht, dass jeder Mensch mit Behinderungen das Recht auf eine angemessene Vorkehrung hat, wenn die betroffene Person das wünscht und es den anderen Personen auch zumutbar ist. Allerdings gilt diese Vorschrift in Deutschland vor allem für öffentliche bzw. staatliche Einrichtungen. Diese Einschränkung kennt die UN-BRK nicht. Und deswegen ist es im Sinne einer selbstbestimmten Teilhabe interessant, die Gesetzestexte einmal zu vergleichen.
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Ein blinder Mann möchte in seinem Büro mit einem Computer arbeiten. Dann wäre es eine angemessene Vorkehrung, eine Braillezeile an die Tastatur seines Computers anzubringen. Oder eine Rollstuhl-Nutzerin möchte ein Theater besuchen. In das Theater kommt man aber nur über einige Stufen. Die angemessene Vorkehrung wäre dann, eine provisorische Rampe anzulegen. Dies heißt allerdings nicht, dass das Theater immer weiter mit Provisorien arbeiten sollte, sondern die Herstellung von umfassender Barrierefreiheit stünde für das Theater weiterhin auf der Tagesordnung.
Eine angemessene Vorkehrung muss nicht teuer oder umständlich sein. Auch ein einfacher, bereitgestellter Strohhalm kann eine angemessene Vorkehrung sein, wenn jemand aufgrund einer Beeinträchtigung sein/ihr Trinkgefäß nicht heben kann…
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Lange Zeit waren angemessene Vorkehrungen in keinem deutschen Gesetz unter dieser Bezeichnung erwähnt. Ohne den Begriff so zu nennen, gab es sie aber schon im § 81 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX – jetzt: § 164 Abs. 4 SGB IX). Hier wird die Verpflichtung des Arbeitgebers zu Anpassungen am Arbeitsplatz definiert. Im Zuge einer Überarbeitung stehen sie seit 2016 auch im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG). Im BGG behandelt der § 7 unter dem Titel "Benachteiligungsverbot für Träger öffentlicher Gewalt" die angemessenen Vorkehrungen. Ganz deutlich steht hier: Die "Versagung angemessener Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen" ist eine "Benachteiligung". Es gibt dort auch eine eindeutige Definition:
"Angemessene Vorkehrungen sind Maßnahmen, die im Einzelfall geeignet und erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass ein Mensch mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Rechte genießen und ausüben kann, und sie die Träger öffentlicher Gewalt […] nicht unverhältnismäßig oder unbillig belasten."
Das Gesetz beschreibt also die Situation, wie in einem "Einzelfall" eine Barriere einen Menschen mit Behinderungen davon abhält, "seine Rechte" wahrzunehmen. Das bedeutet, er kann am gesellschaftlichen Leben nicht so teilhaben, wie das andere, nicht-behinderte Menschen können. Und in diesem Fall sagt das Gesetz: Es müssen die "erforderlichen" Maßnahmen getroffen werden, die in diesem konkreten Fall geeignet - eben "angemessen" - sind, um die Barriere abzubauen.
Das Gesetz sagt aber auch: Eine solche Hilfe darf nicht "unverhältnismäßig" sein. Das heißt, Kosten und Nutzen müssen in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Aber was bedeutet das eigentlich, wenn es darum geht, seine Rechte gleichberechtigt mit allen Anderen genießen zu wollen?
Eine noch weitreichendere Einschränkung geht aber bereits aus dem Titel des Paragrafen hervor: Diese Regel gilt nur für "Träger der öffentlichen Gewalt" auf Bundesebene.
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Das Konzept der angemessenen Vorkehrungen findet sich sehr eindeutig in Artikel 2 der UN-BRK. Die Formulierung ist etwas anders als im BGG, aber man kann sagen: Das BGG erfüllt in dieser Hinsicht den Anspruch der UN-BRK. Die Einschränkung, dass diese Maßnahmen keine "unverhältnismäßige Belastung" darstellen dürfen, gibt es auch in der UN-BRK.
In späteren Artikeln zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen – zum Freiheitsentzug (Art. 14), zum Bildungsbereich (Art. 24) und beim Arbeitsmarkt (Art. 27) – wird erneut das Recht auf angemessene Vorkehrungen betont.
In der UN-BRK wird auch festgehalten, dass die Versagung angemessener Vorkehrungen den Tatbestand einer Diskriminierung erfüllt (Art. 2 in Verbindung mit Art. 5, Abs. 3). Auch das steht so eindeutig im BGG.
Eines findet man in der UN-BRK allerdings an keiner Stelle: Einen Hinweis darauf, dass das Gebot angemessene Vorkehrungen bereitzustellen, nur für "Träger der öffentlichen Gewalt" gelten soll. In Artikel 5 steht einfach nur:
"Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten."
Ganz im Gegenteil, Artikel 27 zum gleichberechtigten Arbeitsmarktzugang definiert recht eindeutig die Pflicht "sicherzustellen, dass am Arbeitsplatz angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen getroffen werden". Dieses wird nun über die Verpflichtung des Arbeitgebers durch den § 164 Abs. 4 SGB IX weitgehend umgesetzt. Ob Hotels, Restaurants, Läden oder andere Anbieter auch jenseits des Arbeitsplatzes ihrer Mitarbeitenden zur Bereitstellung angemessener Vorkehrungen verpflichtet sind, ist bisher unklar.
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„Diskriminierungsschutz“ für Menschen mit Behinderungen vom Deutschen Institut für Menschenrechte, das ebenfalls fordert, „Angemessene Vorkehrungen […] in die Gleichstellungsgesetze als Rechtsanspruch zu integrieren“.
- Aufsatz von Prof. Felix Welti zum Diskriminierungsverbot und "Angemessenen Vorkehrungen" auf der Webseite www.reha-recht.de [PDF, 161 KB]
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Insgesamt wurde das Konzept der angemessenen Vorkehrungen bislang nur recht zögerlich in Deutschland umgesetzt. Das zeigt sich darin, dass es erst 2016 im Zuge der Überarbeitung in das BGG aufgenommen wurde. Da hatte der "UN-Fachausschuss" für die Umsetzung der UN-BRK bereits mehrere Male auf "[d]ie Pflicht zur Bereitstellung angemessener Vorkehrungen" hingewiesen: 2014 in der zweiten "Allgemeinen Bemerkung" ("General Comment"; hier bes. Nr. 26, 31 und 39) und 2015 in den "Abschließenden Bemerkungen" ("Concluding Observations", hier bes. Nr. 13, 14, 32 und 46) zum ersten Staatenbericht Deutschlands (die Fachbegriffe werden im Eintrag zur UN-BRK genauer erklärt).
Problematisch im Sinne einer gleichberechtigten, selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen bleibt aber die Einschränkung auf die "Träger der öffentlichen Gewalt" im BGG: Nur sie werden durch das BGG zur Bereitstellung "angemessener Vorkehrungen" direkt verpflichtet. Umgekehrt heißt das: In allen Bereichen, in denen das Privatrecht gilt, ist unklar, ob diese Regelung verpflichtend ist: Man kann in diesen Fällen gegen eine Diskriminierung aufgrund der Vorenthaltung angemessener Vorkehrungen möglicherweise nicht erfolgreich gerichtlich vorgehen.
Deshalb fordert die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) unter Berufung auf ein Rechtsgutachten, das sie in Auftrag gegeben hat: "Der Begriff der angemessenen Vorkehrungen gehört in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)." Denn so würden Menschen mit Behinderungen im Einklang mit den Bestimmungen der UN-BRK "das Recht erhalten, private Arbeitgeber und Dienstleister auf Schadensersatz wegen einer Diskriminierung verklagen zu können, wenn angemessene Vorkehrungen […] nicht bereitgestellt werden."
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Man kann sagen: Barrierefreiheit bezieht sich auf Vorkehrungen im Vorhinein und auf die Bedürfnisse einer ganzen Gruppe. Als Fachwort nennt man das auch Vorkehrungen "ex ante" (das kommt aus dem Lateinischen und bedeutet "aus vorher"). Angemessene Vorkehrungen beziehen sich unmittelbar auf ein Individuum. Das nennt man dann "ex nunc" (lateinisch "von nun an"). Beispiele für die Herstellung von Barrierefreiheit sind ein baulich ebenerdiger Zugang, oder eine spezielles WC für Rollstuhlfahrer*innen durch die Bauordnungen der Länder. Zu "spontanen" oder "nachträglichen" Maßnahmen einer angemessenen Vorkehrung, die quasi auf eine Barriere reagiert, gehören z. B. das Anschließen einer Braillezeile an den PC, das Dolmetschen in Deutsche Gebärdensprache (DGS) bei einem Seminar oder eine bei Bedarf angelegte Rampe…
Der UN-Fachausschuss hat sich in der "Allgemeinen Bemerkung" Nr. 2 zur Barrierefreiheit auch mit Angemessenen Vorkehrungen befasst. Dort kann man auch einmal eine Erlaüterung der Fachbegriffen "ex ante" und "ex nunc" nachlesen (hier in den Absätzen Nr. 25 und 26).
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Dann wären genau die gleichen Schritte einzuleiten, als wenn es Barrieren gibt, die nach den Gesetzen zu vermeiden oder zu beseitigen sind. Denn sowohl Barrierefreiheit als auch die Bereitstellung von angemessenen Vorkehrungen werden vom BGG vorgeschrieben. Auch wenn man bei einer genehmigten Einrichtung die Beseitigung von Barrieren häufig nicht sofort verlangen kann, ist dieses für "Angemessenen Vorkehrungen" noch möglich. Man kann sich also an die "Schlichtungsstelle" wenden. Das wird genauer im Eintrag zu Barrierefreiheit erklärt.